Ein feiner Kerl
Es ist gleich eine ganze Reihe wunderbarer Geschichten, die Walter de la Cruz erzählen kann. Schmuck sieht er aus. Nicht besonders groß steht er im brombeerfarbenen Poloshirt und in makellos weißen Hosen im Dienstzimmer der Station 2 des Gustav-Werner-Stifts in Friedrichshafen, einer Einrichtung der BruderhausDiakonie Reutlingen. Schwarze Haare, dunkle Augen, dunkler Teint – Noch bevor Walter de la Cruz erzählen kann, ist klar: vom Bodensee stammt er nicht. Geboren und aufgewachsen ist er in Peru. Als er Kind war, trennten sich die Eltern. Er kam mit dem Vater „in den Dschungel“, wie er sagt. Die Halbschwester kam in ein Kinderheim – und fand nach einigen Jahren Adoptiveltern in Deutschland.
Es hat lange gedauert, bis der junge Mann von seiner Schwester erfuhr. Vor drei Jahren lernte er, inzwischen 26 Jahre alt, sie in Peru kennen. Inzwischen ist auch er in Deutschland. Das Visum im Pass weist ihn als Praktikanten aus – noch. Schon in wenigen Tagen verändert sich sein Status. Dann wird er Auszubildender sein.
Frau E. freut sich. „Ja, sind Sie endlich wieder da“, ruft sie, als Walter, wie er überall genannt wird, ins Zimmer kommt. Frau E. gehört zu den Bewohnerinnen im Gustav-Werner-Stift, die öfter mal auf die Rufklingel drücken. Walter weiß: „Manchmal ist ihr einfach langweilig.“ Aber auch dann lässt er sich rufen. „Es ist doch wichtig dass wir uns um die Frauen und Männer hier kümmern.“ Und als Absolvent des Bundesfreiwilligendienstes für über 27-Jährige (BFD Ü27) hat er auch die Zeit, dazu. Zwei Wochen war er weg – im Urlaub. Vermisst wird er auf der ganzen Station. Herr K. schaut aus dem Zimmer in den kleinen Wohnbereich der Station. Dass „der Kerl“, wie er Walter in diesem Moment nennt, wieder da ist, das registriert Herr K. trotz seiner schlecht gewordenen Fähigkeit, sich Dinge zu merken. „Ein feiner Kerl“, sagt Herr K. noch, um sich mit einem „dann machen wir mal weiter“ in sein Zimmer zurückzuziehen.
Derweil hat Walter den Rollator für Frau E. bereitgestellt und begleitet sie ganz vorsichtig zum Tisch, an dem es in Kürze Kaffee und Kuchen geben wird. Dass sich Walter heute mit den alten Damen und Herren gut unterhalten kann, war vor einem Jahr noch nicht zu erwarten. Als er nach Deutschland kam, um seine Schwester und deren deutsche Eltern zu besuchen, kannte er kein einziges Wort. Es waren schon einige Anstrengungen nötig, erzählt Christine Doni, die Pflegedienstleiterin des Gustav-Werner-Stifts. So hat man alle Fortbildungstage, die dem Absolventen des BFD Ü27 zustehen, zusammengelegt, damit er einen Sprachkurs absolvieren kann. Zwar spricht Walter mit deutlich hörbarem ausländischem Akzent. Aber die Grammatik seiner Sätze stimmt. Und mit Frau M. kann er sich verständigen, wiewohl die Äußerungen der schwerkranken Frau von Besuchern kaum zu verstehen sind. Vorsichtig, fast zärtlich, beugt er sich zu ihr und erklärt ihr leise, dass er Walter ist, der genau so heißt wie ihr Sohn. Und dann reicht er ihr ein Glas Wasser, löffelt ganz langsam und in sehr kleinen Portionen ein Joghurt und lässt ihn in den Mund von Frau M. tropfen.
Er habe am Anfang fast nichts verstanden, was ihm die Altenpflegerinnen und Krankenschwestern sagten. „Da habe ich alles mit den Augen gelernt“, sagt Walter. Schränke mit Pflegematerial auffüllen, Wäsche besorgen, Pflegehilfsmittel bereitstellen, das ist heute Routine. Das hilft, so hofft Walter de la Cruz, auch in den nächsten Monaten. Denn neben der alltäglichen Arbeit kommt nun eine Schule hinzu.
In der Bodenseeregion, in der jede Einrichtung und jede Firma händeringend nach Personal sucht, ist es gelungen, dem jungen Peruaner einen Ausbildungsplatz als Alten-, Kranken-und Gesundheitspfleger zu beschaffen. In dreieinhalb Jahren, so hofft Christine Doni, wird Walter seine Examina ablegen und als einfühlsamer Pfleger arbeiten dürfen. Das mit der Arbeit ist dann eine Frage des Aufenthaltsrechts. Vorher, und das ist Walter de la Cruz klar, kommen noch andere Herausforderungen: „Mit der deutschen Sprache muss noch vieles besser werden, damit ich den Unterricht verstehe“, weiß er. Aber so, wie er in den letzten eineinhalb Jahren gelernt hat, wird er auch diese Hürde nehmen. „Eigentlich“, sagt er, „bin ich ja nur nach Deutschland gekommen, um die Sprache zu lernen.“