Kassen sperren sich gegen notwendige Refinanzierung
Häusliche Krankenpflege der kirchlichen Verbände ist in ihrer Existenz bedroht
Diakonie und Caritas in Baden-Württemberg schlagen Alarm: Die Verhandlungen mit den Krankenkassen um angemessene Vergütungen für Diakonie- und Sozialstationen geraten ins Stocken. Wenn die nächste Verhandlungsrunde scheitere, sei ein wesentlicher Teil der Häuslichen Krankenpflege in Baden-Württemberg gefährdet, teilten die Verbände in Pressegesprächen in Stuttgart und Karlsruhe mit.
Stuttgart. Seit Jahren würden die steigenden Kosten bei der Häuslichen Krankenpflege nur teilweise refinanziert. „Angesichts der derzeit guten Kassenlage der Krankenkasse ist es unverantwortlich, dass es auch nach langwierigen Verhandlungen nicht möglich war, eine Vergütungserhöhung zu erzielen, die den tariflichen und sonstigen Kostensteigerungen entsprochen hätte“, betonte Kirchenrätin Heike Baehrens, stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg. Niemand glaube, dass Pflegekräfte zu viel verdienen und trotzdem bekämen die Diakonie- und Sozialstationen die Steigerung der Löhne und Gehälter nicht refinanziert. Um langfristig eine flächendeckende ambulante Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen in Baden-Württemberg gewährleisten zu können, müssten sich die Krankenkassen bewegen und von ihrer restriktiven Haltung Abstand nehmen.
Das derzeitige Angebot zur Erhöhung der Leistungsvergütungen von rund 2,4 Prozent stehe in keinem Verhältnis zu dem, was eigentlich erforderlich sei. „Wir fordern, die Vergütung so anzuheben, dass Versorgungsstrukturen nachhaltig gesichert und die Qualität der Versorgung auf dem bestehenden, hohen Niveau erhalten bleiben. Deshalb fordern wir eine Erhöhung um mindestens fünf Prozent“, sagte Baehrens.
Die ambulanten Pflegedienste in Baden-Württemberg werden vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen durchschnittlich mit der Note 1,3 bewertet, der Bereich Häusliche Krankenpflege sogar mit 1,2. „Diese hohe Qualität ist nur dank des hohen Engagements der Mitarbeitenden in Pflege und Hauswirtschaft sowie Leitungskräfte zu erreichen. Dennoch muss um eine der guten Qualität entsprechende Vergütung ständig gerungen werden.“ So seien die Personalkosten in den letzten neun Jahren allein durch Tarifsteigerungen bei Caritas und Diakonie um 17 Prozentpunkte gewachsen. Nicht eingerechnet seien dabei die gestiegenen Sachkosten wie zum Beispiel die Benzinpreise oder Kosten durch immer mehr gesetzliche Anforderungen zur Qualitätssicherung und Dokumentation. Dem stehe im Bereich der Häuslichen Krankenpflege eine Erhöhung der Leistungsvergütung um lediglich acht Prozentpunkte gegenüber. Über die Hälfte der Personalkostensteigerungen seien in den letzten neun Jahren also nicht refinanziert.
Bei Caritas und Diakonie in Baden-Württemberg schreiben derzeit gut 60 Prozent aller Pflegedienste rote Zahlen. Nur durch die Unterstützung von Krankenpflegevereinen, Kirchengemeinden oder vereinzelt durch Kommunen sowie durch Spenden konnten laut Heike Baehrens die Dienste die Versorgung der kranken und pflegebedürftigen Menschen aufrechterhalten.
Ute Epple, Geschäftsführerin der Diakoniestation Bietigheim-Bissingen, berichtete, dass sie mit 60 verschiedenen Kassen zu tun hat. „Der bürokratische Aufwand ist enorm, der Druck auf die Mitarbeitenden, immer noch effizienter zu arbeiten, sehr hoch.“ Ohne Sponsoren und die unterstützende Kommune würde ihre Station längst rote Zahlen schreiben.
Im vergangenen Jahr haben die Ärzte etwa vier Prozent mehr erhalten, während die ambulanten Pflegedienste lediglich 1,98 Prozent bekamen, beklagten die Verbände. Dabei machten die Ausgaben für die Häusliche Krankenpflege bei den Krankenkassen gerade mal zwei Prozent ihrer Gesamtausgaben aus. „Angesichts der hohen Überschüsse und Rücklagen in diesem Jahr bei den gesetzlichen Krankenkassen ist es ein Affront gegenüber den engagierten Dienstleistern in der ambulanten Pflege, wenn zwar die gute Qualität gelobt, aber die angemessene Bezahlung fachlich guter Leistungen verwehrt wird“, sagte Kirchenrätin Baehrens. Und. „Es kann nicht erwartet werden, dass der Fachkräftemangel in der Pflege behoben werden kann, wenn die Rahmenbedingungen für das Personal immer enger und unattraktiver ausgestaltet werden.“
Diakonie und Caritas in Baden-Württemberg fordern deshalb eine angemessene Refinanzierung und einen Ausgleich für die seit vielen Jahren bestehende Unterfinanzierung. Auch bei den Kranken- und Pflegekassen müsse die Tarifbindung der Dienste der freien Wohlfahrtspflege anerkannt werden. Im vergangenen Jahr stiegen beispielsweise die Gehälter für die Beschäftigten der kirchlichen Pflegedienste von Caritas und Diakonie, die sich am TVöD orientieren, um 3,5 Prozent. Da die Preise nur um 1,98 Prozent erhöht werden konnten – und bei einzelnen Kassen nicht einmal für alle Leistungen –, ist für die Dienste ein Defizit entstanden, das sie nie mehr aufholen können. Nachdem diese Vorgehensweise von den Kassen seit Jahren praktiziert wird, ist ein Einlenken dringend nötig, auch um den Fortbestand der flächendeckenden Versorgung im Land zu gewährleisten.
Eine weitere Forderung ist laut Dr. Rainer Brockhoff, Diözesancaritasdirektor Rottenburg-Stuttgart, die Verhandlungen und den Abrechnungsmodus zu entbürokratisieren. Die ambulanten Pflegedienste werden durch zwei Abrechnungskreise und über drei verschiedene Verträge finanziert. Dies führe zu einem enormen Verwaltungsaufwand bei den Pflegediensten. Um neue Preise im Bereich der Häuslichen Krankenpflege zu erreichen, sei ein „echter Verhandlungsmarathon“ zu absolvieren. Es müssten für die gleichen Sachverhalte Verhandlungen mit vier verschiedenen Krankenkassengruppen geführt werden. Diese Verwaltungskosten würden nicht refinanziert. In Baden-Württemberg sei diese Unterschiedlichkeit besonders ausgeprägt. In anderen Bundesländern wie Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gibt es diese Aufsplitterung nicht.
Allein in der Häuslichen Krankenpflege summieren sich laut Statistischem Bundesamt die Bürokratiekosten auf 191 Millionen Euro, die bei Leistungserbringern und Krankenversicherungen entstehen – Grund dafür ist das schwierige Antragsverfahren bei der Häuslichen Krankenpflege und ein hoher Abstimmungsaufwand für den Pflegedienst mit Arzt, Versichertem und Krankenkasse.
Bei der Familienpflege sei das Defizit noch höher als bei der Häuslichen Krankenpflege, weil die Erstattung mit rund 26,50 Euro pro Stunde die Kosten, die bei rund 45 Euro pro Stunde liegen, bei Weitem nicht deckt. Den gesetzlichen Weg der Konfliktklärung über eine Schiedsperson gibt es dort nicht. Man hat also keinerlei Druckmittel, um Verbesserungen zu erreichen. Viele ambulante Pflegedienste hätten deshalb diese Leistung schon eingestellt.
Diakonie und Caritas in Baden-Württemberg fordern, dass tarifbedingte Kostensteigerungen der ambulanten Pflegedienste voll refinanziert werden. Im Interesse der Patienten seien ärztliche Verordnungen von den Krankenkassen anzuerkennen und nicht durch lange Überprüfungsschleifen hinaus zu zögern. Zudem müssten die gesetzlichen Krankenkassen die Verhandlungen über die Leistungsinhalte, Vergütung und Abrechnungsregelungen gemeinsam führen. Der derzeitige bürokratische Aufwand stehe in keinem Verhältnis zum Ergebnis. Landesregierung und Bundespolitik sollten politisch darauf hinwirken, dass auch im SGB V Regelungen verankert werden, die gewährleisten, dass tarifbedingte Personalkostensteigerungen refinanziert und nicht durch das Prinzip der Beitragssatzstabilität ausgehebelt werden. Die Schiedspersonenregelung der Häuslichen Krankenpflege müsse auch für den Bereich der Familienpflege gelten. Nur so könnten unüberwindbare Streitigkeiten durch einen neutralen Dritten geregelt werden.