22. Januar 2018

In Koalitionsvereinbarungen wichtige Weichen stellen

Diakonie in Württemberg mahnt, Bedürfnisse benachteiligter Menschen zu berücksichtigen
Bei den Koalitionsvereinbarungen müssen die Verhandlungspartner nun wichtige Weichen stellen, mahnt die Diakonie Württemberg. „Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, brauchen starke Fürsprecher“, sagt Oberkirchenrat Dieter Kaufmann, Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werks Württemberg. Aufgrund ihrer von Gott zugesprochenen Würde seien alle Menschen gleich wichtig und wertvoll. Der Wohlfahrtsverband bietet als Partner bei der Ausgestaltung des Sozialstaats seine Mitarbeit an.

Stuttgart, 22. Januar 2018. Arbeitslosigkeit ist die häufigste Ursache für Armut und Ausgrenzung. „Die Schattenseiten einer positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sind eine sich verfestigende Langzeitarbeitslosigkeit, zunehmend lange Abhängigkeit von Hartz IV, immer mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse und eine wachsende Polarisierung der unteren und oberen Einkommenssegmente“, sagt Kaufmann. Statistische Daten belegten ein Schrumpfen der Mittelschicht, deren Verlustängste sich zu Legitimationsproblemen des demokratischen Sozialstaates entwickeln könnten. „Die positive wirtschaftliche Entwicklung und die gute Einnahmesituation des Staates und der Sozialversicherung müssen dafür genutzt werden, Langzeitarbeitslosen Teilhabe an Arbeit zu ermöglichen und eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen.“ Kaufmann begrüßt die Ankündigung im Sondierungspapier, die langjährige Forderung der Diakonie aufzugreifen, einen Sektor öffentlich geförderter Beschäftigung einzuführen, zur Finanzierung den Passiv-Aktiv-Transfer anzuwenden sowie eine Milliarde mehr Eingliederungsmittel zur Verfügung zu stellen.

Seit der Rentenreform 2001 fallen die gesetzlichen Renten. Wer lange wenig verdient, in Teilzeit gearbeitet oder durch Familienphase, Krankheit oder Arbeitslosigkeit pausiert hat, hat eine nicht auskömmliche Rente zu erwarten. Die Zahl der Grundsicherungsbezieher  über 65 Jahren hat von 2005 (Hartz-Reformen) bis 2015 um über 56 Prozent auf heute über 536.000 Menschen zugenommen. Aus Unkenntnis, Angst oder Scham erscheinen weitere Betroffene nicht in der Statistik. Nach Ansicht der Diakonie muss das Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung wieder gestärkt werden, denn „eine Verlagerung der Alterssicherung auf private und kapitalgedeckte Versicherungen schließt Geringverdiener aus“. Die Einführung einer Mindestrente und einer Höchstrente würde die soziale Sicherung als ein Solidarsystem organisieren, das Altersarmut zu vermeiden hilft. Zusätzlich müssen Bezieher niedriger Renten durch Aufstockungen aus dem Staatshaushalt unterstützt werden.

Die Diakonie Württemberg begrüßt die Absicht der drei Parteien, die Bedingungen in der Pflege zu verbessern. „Die letzten Reformen haben die Pflege ein gutes Stück weiter gebracht. Jetzt muss eine große Koalition aber den Mut haben, eine durchgreifende Reform der Pflegeversicherung anzugehen“, sagt Eva-Maria Armbruster, Vorstand Sozialpolitik im Diakonischen Werk Württemberg. Dazu gehöre zum Beispiel die Vergütung der Behandlungspflege alter Menschen im Pflegeheim, die bislang nicht angemessen bezahlt wird. Mit Blick auf die große Zahl mehrfach erkrankter Menschen im Heim sei dies aber dringend notwendig. Mit aller Kraft muss sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass der Pflegeberuf attraktiver wird. Dazu gehört, dass sich die Arbeitsbedingungen für die Pflegekräfte in den Krankenhäusern entscheidend verbessern.

Mehr als 80.000 der 100.000 Menschen, die sich in einem Freiwilligendienst engagieren, tun dies bei einem verbandlichen Träger. Die Diakonie als ein großer Anbieter fordert die Möglichkeit auch für Freiwillige unter 27 Jahren, in begründeten Ausnahmen diesen Dienst in Teilzeit leisten zu können. Weiter sind die Mittel des Sonderkontingents „Bundesfreiwilligendienst mit Flüchtlingsbezug“ auch nach 2018 zu erhalten. Und: Der Belegungszwang im Bundesfreiwilligendienst für die verpflichtenden Seminare zur politischen Bildung an den Bildungszentren des Bundes muss abgeschafft werden.

Kinder- und Jugendhilfe sind zu stärken, insbesondere im Bereich der Hilfen für Eltern, junge Geflüchtete und junge Volljährige. Die nächste Bundesregierung muss die Kinder- und Jugendhilfe, orientiert an den Kriterien „bedarfsgerecht“, „sozialräumlich“ und „inklusiv“, reformieren und das Leistungsrecht konsequent an den Bedürfnissen und Erfordernissen der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie deren Eltern und Sorgeberechtigten orientieren, sagt Eva-Maria Armbruster. Junge Volljährige bräuchten zunehmend Leistungen der Kinder und Jugendhilfe, um den Übergang ins Erwachsenenalter zu bewältigen. Die Hilfen für junge Volljährige müssten daher erhalten und gestärkt werden. Außerdem seien Eltern mehr als bisher durch familienbezogene Bildung, Beratung und Erholung in ihrer Erziehungsverantwortung zu fördern. „Die Bundesregierung muss zudem deutliche Impulse in der Bildungspolitik und der Kinder- und Jugendhilfe setzen und Bildungspartizipation für alle Kinder gewährleisten“, so Armbruster.

Eine weitere zentrale Forderung der Diakonie in Württemberg ist eine massive Steigerung der Förderung des sozialen Wohnungsbaus. „Der Bund, der eigentlich für den sozialen Wohnungsbau nicht mehr zuständig ist, muss die Bundesländer dabei weiterhin finanziell unterstützen, darf sie in der zugespitzten Situation des Wohnraummangels nicht allein lassen“ so Kaufmann. Um dem Bedarf, der bundesweit mit 80.000 Sozialwohnungen jährlich beziffert wird, gerecht zu werden, muss der Bund dafür 2 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, die durch die Bundesländer zu verdoppeln sind. Dabei sind die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Länder diese Zahlungen direkt erhalten können. Alternativ wären Regelungen im Rahmen des Bund-Länder-Finanzausgleichs anzustreben. Daneben sollten steuerliche Anreize für Investoren und gesetzliche Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, sowohl zeitnah Flächen für den Wohnungsbau zu gewinnen als auch Umweltgesichtspunkte und Bauanforderungen beschleunigt, aber sachgerecht zu berücksichtigen. „Um die Mietentwicklung nicht aus dem Ruder laufen zu lassen und Zeit für den Wohnungsbau zu gewinnen, gilt es, die Mietpreisbremse praktikabel zu gestalten, ein Mietobergrenzengesetz einzuführen und Kommunen finanziell zu unterstützen, dem Wohnungsleerstand entgegenzutreten“, fordert Oberkirchenrat Dieter Kaufmann.

Im Bereich Asyl fordert Kaufmann deutliche Nachbesserungen. „Die im Sondierungspapier beschriebenen Maßnahmen setzen auf Abschottung und Ausgrenzung und stehen im Widerspruch zu den beschriebenen Zielen eines Europas der globalen Verantwortung und der Solidarität.“ Das Grundrecht auf Asyl, zu dem sich die Vertragspartner bekennen, werde in der Praxis ausgehebelt, wenn Schutzsuchenden der Zugang nach Deutschland versperrt wird. Auch die geplanten zentralen Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungszentren (ANkER) sieht Kaufmann kritisch. „Hier geschieht ein Ausschluss in doppelter Richtung. Flüchtlingen wird die Teilhabe verwehrt und gleichzeitig wird die Gesellschaft von Begegnung und Solidarität im Alltag ausgeschlossen. Dies steht auch im Widerspruch zu der formulierten Stärkung der Zivilgesellschaft.“ Das Sondierungsergebnis orientiere sich an Angst und einer begrenzten Integrationsfähigkeit der Zivilgesellschaft und negiere damit das hohe Engagement und die gelungene Partizipation der vergangenen Jahre. Kein Verständnis hat Kaufmann auch für die geplante Neuregelung zum Familiennachzug. Die verlängerte Aussetzung und Deckelung des Familiennachzugs bei subsidiärem Schutz sei unmenschlich und erschwere die Integration unnötig.


  • Positionen zur Bundestagswahl 2017

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