Im Zweifel für das Leben
Vortrag zu Sterbehilfe lockte viele Zuhörende an
Gammertingen. „Ich bin ein Gast auf Erden – Umgang mit selbstbestimmtem Sterben“: Unter diesem Titel hatte die Pfarrstelle Mariaberg in Zusammenarbeit mit der Hospizgruppe Gammertingen-Veringenstatt letzte Woche zu Vortrag und Diskussion nach Gammertingen eingeladen. Stühle um Stühle mussten im Evangelischen Gemeindehaus hinzugestellt werden, um den rund 60 Interessierten einen Platz bieten zu können. „Das zeigt ganz klar den Bedarf, das Thema zu besprechen“, so die Veranstalterinnen Pfarrerin Bärbel Danner vom Mariaberg e.V. und Carolin Lang, Koordinatorin der Hospizgruppe der Caritas. Als Vortragende konnten sie den Präsidenten des Verwaltungsgerichts Sigmaringen, Prof. Dr. Christian Heckel, und die Gerontologin, Supervisorin und Geistliche Begleiterin Ursula Reyle gewinnen.
Im Februar 2022 erklärte das Bundesverfassungsgericht den §217 des Strafgesetzbuches für verfassungswidrig. Dadurch wurde jeder Person das Recht auf selbstbestimmtes Sterben, einschließlich eines eigenverantwortlichen Suizids mit freiwilliger Assistenz zugesprochen. Prof. Dr. Christian Heckel klärte das Publikum zunächst über die dem Urteil vorausgegangenen Präzedenzfälle sowie die gesetzlichen Rahmenbedingungen auf Basis der Menschenwürde und des Grundsatzes der Unverzichtbarkeit des Lebens auf: „In dubio pro vita, in dubio pro dignitate: Im Zweifel für das Leben, im Zweifel für die Würde. Ist das Schutzgut Leben oder das Recht auf Selbstbestimmung und Freiheit wichtiger?“ Anhand der eindrücklichen Fallbeispiele machte der Jurist dieses Spannungsfeld deutlich und stellte auch den wichtigen Unterschied zwischen der verbotenen aktiven Sterbehilfe und anderen Formen dar: der passiven Sterbehilfe z.B. als Aufgeben der (ansonsten leidensverlängernden) Behandlung, der indirekten Sterbehilfe im Sinne der Inkaufnahme, z.B. durch die Gabe von Schmerzmitteln zur Leidensverringerung, sowie der straflosen Beihilfe zur Selbsttötung.
Prof. Dr. Heckel verwies auf die Suizidprävention, v.a. auch in Bezug auf psychisch belastete Menschen, als drängendstes Thema sowie die wertvolle Arbeit von Hospizgruppen und Unterstütungssystemen. Ursula Reyle stimmte ihm zu: „Die drei Hauptgründe für einen Suizidversuch sind angstgetrieben: Angst vor Schmerzen, Angst vor dem Alleinsein und Angst, zur Last zu fallen.“ Suizid trage „das Angesicht des Alters“: so seien hauptsächlich Witwer über 80 Jahren gefährdet und während bei jungen Menschen „nur“ jeder 40. Suizidversuch gelänge, wäre es bei Über-60-Jährigen jeder zweite. Lebensbindungen zu verstärken, die Auswirkung auf die Hinterbliebenen auszumalen und einen Antisuizidvertrag mit einem suizidalen Gegenüber zu schließen könne Leben retten. Vor allem aber: das Tabu zu brechen, über den Tod zu sprechen: „Moralisch-ethische Probleme müssten aus der Mitte der Gesellschaft heraus gelöst werden“, so Reyle. Dabei sei das Einlassen auf die eigene Suizidalität und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod grundlegend, um sterbenden oder suizidalen Menschen in der Seelsorge helfen zu können. Dies auch Grundlage jeder Hospiz-Ausbildung – und elementar für ein eigenes glückliches Leben.
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