Diakonie Württemberg arbeitet Geschichte der Kinderverschickung auf
Meldeaufruf an Betroffene von Kinderkuren ab den 1950er Jahren
Stuttgart, 15. Dezember 2023. Die Diakonie in Württemberg erforscht die Geschichte der Verschickung von Kindern ab den 1950er Jahren in Kinderkuren diakonischer Erholungsheime. Für die wissenschaftliche Untersuchung werden jetzt bundesweit ehemalige Verschickungskinder gesucht, die in drei ehemaligen Kinderkurheimen untergebracht waren: dem Haus Bühlhof im Schwarzwald, dem Haus Carola in Berchtesgaden sowie dem Haus Hubertus in Scheidegg im Allgäu. Auch ehemalige Mitarbeitende sind gesucht, die Hinweise auf die Abläufe in den Häusern geben können. Hinweise auf gute und schlechte Erfahrungen helfen bei der möglichst umfassenden Aufarbeitung. Kontakt für ehemalige Verschickungskinder und Mitarbeitende: Dr. Gudrun Silberzahn-Jandt, E-Mail: silberzahn-jandt(at)t-online.de
„Die Verschickung von Kindern und Jugendlichen war eine pädagogische Praxis bis in die 1980er Jahre, die wir aus Gründen heute nicht praktizieren. Einige Kinder und Jugendliche haben davon profitiert und auch gute Erinnerungen daran. Wir wissen aber auch, dass viele ehemalige sogenannte Verschickungskinder bis heute traumatisiert sind, weil sie in der Zeit ihrer Kur Gewalt erfahren haben. Deshalb ist es sehr wichtig, dass sich ehemalige Verschickungskinder und Zeitzeugen bei uns melden“, sagt Dr. Kornelius Knapp, Vorstand Sozialpolitik des Diakonischen Werks Württemberg und Leiter der Arbeitsgruppe zum Thema Kinderverschickung. Dabei seien die Betroffenen als Interviewpartner im Forschungsprojekt der Esslinger Sozialwissenschaftlerin Dr. Gudrun Silberzahn-Jandt geschützt. Ihre besondere Situation werde mit viel Sensibilität wahrgenommen.
Im Zuge dieser Aufarbeitung sucht die Diakonie die enge Kooperation mit Zusammenschlüssen von Betroffenen. Im Südwesten ist das die Initiative Aufarbeitung Kinderverschickung Baden-Württemberg e.V. „Uns geht es nicht um Skandalisierung, sondern um Aufklärung und Anerkennung“, sagt Andrea Weyrauch, Vorstandsvorsitzende der Initiative und Mitglied im Beirat der Aufarbeitungsgruppe der Diakonie.
„Als ehemaliger Träger des Kinderkurheimes Carola stehen wir zu unserer Verantwortung und setzen uns bereits seit 2019 für eine vollständige Aufarbeitung ein“, sagt Dr. Dörte Bester, Direktorin und Theologischer Vorstand der Stiftung Karlshöhe Ludwigsburg, von 1962-1973 Träger des Hauses Carola bei Berchtesgaden. Die Karlshöhe ist aufgrund der Vollständigkeit und Transparenz ihrer Akten in das Forschungsprojekt aufgenommen worden. Alle Akten des Kinderkurheims Carola wurden 2019 ans Landeskirchliche Archiv in Stuttgart zur historischen Erschließung übergeben und sind dort öffentlich einsehbar.
Geschichte der Kinderverschickung diakonischer Träger in Württemberg
- Mehrere Millionen Kinder – die offiziellen Angaben gehen auseinander - sind in der Bundesrepublik Deutschland von Anfang der 1950er bis Ende der 1980er Jahre zu so genannten Kinderkuren verschickt worden. Weil sie beispielsweise Asthma hatten, Neurodermitis oder auch für unter- oder übergewichtig befunden wurden. Die Kinder, oft aus dem städtischen Milieu, sollten sich auf dem Land erholen und ihre Beschwerden auskurieren.
- Viele soziale Träger, auch aus der Diakonie in Württemberg, betrieben damals Kinderkurheime in landschaftlich reizvollen Erholungsgebieten wie dem Schwarzwald, den Alpen oder der Nordsee. Die Kosten dafür übernahmen die gesetzliche Krankenversicherung oder die Rentenversicherung. Die Kinder waren in dieser Zeit völlig von ihren Eltern getrennt.
- Dieses nationale Gesundheitsprogramm war für viele Kinder eine Qual, etliche wurden traumatisiert. Dazu trug die so genannte „schwarze Pädagogik“ der Nachkriegszeit bei, die vor allem in den 1950er und 1960er Jahren auf Strenge und Strafen setzte. In manchen Häusern kam es zusätzlich zu Übergriffen und Misshandlungen – bis hin zu sexualisierter Gewalt.
- Das Diakonische Werk Württemberg hat den Prozess der Aufarbeitung diakonischer Kinderkurheime bereits 2021 begonnen. Die Kulturwissenschaftlerin Dr. Gudrun Silberzahn-Jandt wurde mit der unabhängigen Aufarbeitung beauftragt. Der Abschlussbericht zum Forschungsprojekt Kinderverschickung liegt bereits vor und wurde der Öffentlichkeit im Juli 2023 vorgestellt. Er besteht in der wissenschaftlichen Auswertung und Sichtung der in Archivalien liegenden Akten zur Verantwortung des Diakonischen Werkes Württemberg mit Blick auf Einrichtungsdaten, einer Bewertung der Dokumente sowie einer Empfehlung zur Weiterbearbeitung.
- Gegenwärtig läuft die zweite Phase dieses Forschungsprojektes. Dabei geht es um eine vertiefte Forschung zu drei ausgewählten ehemaligen Kinderkurheimen. Als Erhebungsinstrument werden neben den vorhandenen Akten auch Interviews mit ehemaligen Verschickungskindern, aber auch Mitarbeitenden geführt und ausgewertet. Bislang konnten erst neun ehemalige Verschickungskinder ermittelt werden, die einst in einem der drei Kinderkurheime eine Kur verbracht hatten. Darunter ist auch eine von sexualisierter Gewalt betroffene Person. Hinzu kommen zwei ehemalige Erzieherinnen in Ausbildung.
- Das Diakonische Werk Württemberg kooperiert in diesem Aufarbeitungsprozess neben der Aufarbeitung Kinderverschickung Baden-Württemberg e.V. mit dem Sozialministerium Baden-Württemberg, dem Landesarchiv Baden-Württemberg sowie dem Landeskirchlichen Archiv Stuttgart, die in einem Beirat mitwirken. Die Vorstandsvorsitzende der Aufarbeitung Kinderverschickung Baden-Württemberg e.V., Andrea Weyrauch, war als Kind selbst in einer Kinderverschickungskur und ist persönlich betroffen.