10. April 2025

Bereitstellung von Geldern und rasche Ausgestaltung notwendig

Stuttgart, 10. April 2025. Die Diakonie Württemberg bewertet den jetzt vorgelegten Koalitionsvertrag verhalten bis optimistisch. „Wir hoffen sehr, dass die Politik nun Schritte unternimmt, die durch die Förderung der sozialen Infrastruktur den Zusammenhalt der Gesellschaft im Land stärken und den Bedürfnissen nach sozialer Sicherung in unserer Bevölkerung nachkommen“, sagte Oberkirchenrätin Dr. Annette Noller, Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg. Wichtig ist, dass nun schnell die künftige Regierung ihre Arbeit aufnehmen kann, damit zeitig vor der Sommerpause ein Haushalt beschlossen und die vorläufige Haushaltsführung beendet werden kann. Diese führt zu vielen Engpässen in der Praxis. 

Folgend eine Bewertung einzelner Themen, die für die Arbeit der Diakonie Württemberg und ihrer Einrichtungen und Dienste eine Rolle spielen.

Freiwilligendienste

Die Aussagen zum Ausbau und zur Förderung der Freiwilligendienste sind zu begrüßen. Zentrale Anliegen der Wohlfahrtsverbände wie überjährige Förderzusagen, Ausbau der Plätze, ein Taschengeld, das allen Interessierten einen Freiwilligendienst ermöglicht, werden genannt. Besonders erfreulich ist, dass die Rolle der Wohlfahrtsverbände explizit genannt wird (3331). Zu begrüßen ist auch die verbindlichere Formulierung: „Für den Freiwilligendienst und das Freiwillige Soziale Jahr werden wir mehr Stellen und mehr Finanzmittel für ein höheres Taschengeld zur Verfügung stellen“ (3781). 

Wehrpflicht

Die Entscheidung, einen „freiwilligen“ Wehrdienst zu schaffen (4149), ist begrüßenswert; der Großteil der Verbände hat stets betont, dass Freiwilligkeit im Engagementbereich einer Pflicht vorzuziehen ist. Dass dabei von „zunächst“ die Rede ist, lässt Raum für Interpretationen. Der Hinweis auf das „schwedische Wehrdienstmodell“ (4153) könnte zum Anlass genommen werden, die darin vorgesehene Information Wehrpflichtiger über Einsatzmöglichkeiten bei der Bundeswehr zu ergänzen um Informationen und Hinweise zu Möglichkeiten zum Engagement im Bereich der Daseinsvorsorge, also auch im Sozialen Sektor. 

Gesellschaftsjahr/Sozialer Pflichtdienst

Hierzu sind keine Hinweise zu finden.

Altenpflege

Der Koalitionsvertrag ist für die Altenpflege ernüchternd: Zur Bestandssicherung der stationären Pflege gibt es keine Aussagen, ebenso wenig zur wirtschaftlichen Herausforderung der Träger. Auch für den ambulanten Bereich bleibt die Frage offen, wie pflegerische Versorgungssicherheit gehen kann – die Lösung sollen offensichtlich die Angehörigen und die Pflege-Anbieter bringen.

Ein großer Wechsel oder Neustart lässt sich nicht ableiten. Die wesentlichen Themen im Bereich Gesundheit und pflegerische Versorgung sowie dringend notwendige sozialpolitische Reformen werden in Arbeitskreise und Kommissionen vertagt. Strukturelle Veränderungen für die Pflegeprofession stehen weiterhin aus, bspw. die Anerkennung der Pflege als eigenständige Säule im Gesundheitssystem und eine Integration in die Selbstverwaltung.

Sehr positiv zu bewerten sind das Pflegekompetenz- und Pflegefachassistenzgesetz sowie das Gesetz zur Einführung der Advanced Practice Nurse, was innerhalb der ersten 100 Tage auf den Weg gebracht werden soll. Dafür braucht es eine gemeinsame Ausgestaltung.

Kinder und Jugend

Der Koalitionsvertrag enthält wichtige Vorhaben zur Stärkung von jungen Menschen und Familien – in Bezug auf die Bekämpfung von Kinder- und Familienarmut greift er zu kurz. 

Weiterhin wäre die Einführung einer Kindergrundsicherung der beste Weg, um Kinder- und Familienarmut effektiv entgegen zu wirken. Die im Koalitionsvertrag genannten Maßnahmen, damit die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets in höherem Maße bei Familien ankommen, sind aber als erster Schritt in die richtige Richtung zu begrüßen. 

Die geplante Aufstockung der Frühen Hilfen als wirkungsvoller Ansatz zur Prävention und Stärkung von Familien sind sehr zu begrüßen. Entscheidend wird aber sein, dass auch eine entsprechende Ausweitung der Finanzierung erfolgt. 

Zu begrüßen ist auch, dass die mentale Gesundheit und Einsamkeit junger Menschen in den Blick genommen wird und rechtskreisübergreifende Unterstützungsformen im Zusammenwirken von Jugendhilfe, Bildung und Gesundheitssystem gestärkt werden sollen. 

Dass das Ziel einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe weiter verfolgt werden soll, ist ein sehr wichtiger Inhalt des Koalitionsvertrags. Entscheidend wird in der Umsetzung sein, dass konsequent an den Ergebnissen des Beteiligungsprozesses angeknüpft wird und eine entsprechende Gesetzgebung zur Hilfeerbringung „aus einer Hand“ unter dem Dach des SGB VIII erfolgt.

Positiv ist auch die Verankerung der Prävention sexualisierter Gewalt. Die vorgesehene Fortführung des Fonds Sexueller Missbrauch und des damit verbundenen Ergänzenden Hilfesystems unter Beteiligung des Betroffenenrats sowie die enge Begleitung der Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) sind wichtige Maßnahmen.

Eingliederungshilfe 

Die anteilige Finanzierung der Eingliederungshilfe zwischen Bund, Ländern und örtlichen Trägern fehlt im Koalitionsvertrag. Eine stärkere Beteiligung des Bundes ist erforderlich, um mehr Teilhabe und Sicherung der Angebote zu sichern. 

Der Übergang von Menschen mit Behinderungen in den allgemeinen Arbeitsmarkt (654) muss Ziel sein. Allerdings wird es immer eine Personengruppe geben, die nur in einer Werkstätte beschäftigt werden kann. 

Digitalisierung (666 ff) ist ein sehr wichtiges Vorhaben. Sie wird die Teilhabe stark verbessern, sofern es eine bessere Versorgung mit Hilfsmitteln wie Bildschirmleseprogramme oder Rollstühle mit elektronischer Steuerung gibt. 

Dass die Teilhabechancen für Menschen mit komplexen Behinderungen verbessert werden sollen (666), ist sehr zentral. Dies muss aber so ausgestaltet werden, dass Angehörige einen passenden Platz für die Versorgung finden.

Vorgesehene Pauschalierungen (672) zum Bürokratie-Abbau dürfen die Personenzentrierung durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) nicht gefährden. Zur Evaluierung zum BTHG (670) müssen Leistungserbringer und Interessenvertretungen einbezogen werden, sie ist aber erst möglich, sobald alle Leistungsbescheide zugestellt sind.

Dass die spezifischen Bedarfe von Menschen mit psychischer Erkrankung in den Blick genommen werden sollen (676), ist wichtig, muss heißen, dass es genügend und leicht zugängliche Angebote gibt.

Migration und Flucht

Es ist zu begrüßen, dass das individuelle Recht auf Asyl weiterhin Grundlage des Regierungshandelns ist (2960), ebenso Unterstützungsangebote für eine gelingende Integration (3050 ff, insbesondere 3059 ff). Auch die Fortführung und auskömmliche Finanzierung der Migrationsberatung für Erwachsene ist ein Signal, das die Diakonie Württemberg sehr begrüßt (3056).

Dagegen ist das Aussetzen des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte ein falsches Zeichen. Für Diakonie und Landeskirche ist die Familie ein hohes Gut, trägt zur Integration bei, ist ein sicherer Ort gerade auch für Geflüchtete (2975 ff).

Schwerwiegend ist die generelle Beendigung von humanitären Aufnahmeprogrammen für besonders gefährdete Gruppen wie Ortskräfte aus Afghanistan oder Jesidinnen aus dem Irak oder aus Syrien.

Neu ankommende ukrainische Flüchtlinge sollen bei Bedürftigkeit wieder unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen (3100). Dadurch haben sie nicht mehr den vollen Schutz der Krankenversicherung, sondern nur noch in medizinischen Notlagen. Das ist eine Rückwärtsentwicklung, da die Integration trotz aller weiter bestehenden Schwierigkeiten bisher besser umzusetzen war. Diakonie und Landeskirche werden sich weiterhin für diese Personengruppe einsetzen.

Entwicklungspolitik

Sehr begrüßt wird das klare Bekenntnis zur humanitären Hilfe(4095-4100). Ebenso, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung erhalten bleibt und der Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle zugeschrieben wird (4265).

Das Ziel der Entwicklungszusammenarbeit legt mit der Formulierung „wirtschaftliche Zusammenarbeit und Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen, Fluchtursachenbekämpfung sowie die Zusammenarbeit im Energiesektor“ allerdings den Fokus auf die Interessen deutscher Unternehmen und weniger auf globale Gerechtigkeit.

Arbeitsmarktpolitik und Grundsicherung für Arbeitssuchende

Schnellste Vermittlung in Arbeit soll laut Koalitionsvertrag Vorrang haben. Wer langzeitarbeitslose Menschen aber nachhaltig auf den Arbeitsmarkt bringen will, muss sie intensiv unterstützen, fördern und vorbereiten. Dass der Übergang junger Menschen ins Berufsleben durch Berufsorientierung und Ausbildungsoffensiven im Papier steht, ist ebenfalls wichtig.

Der geplante Ausbau von Qualifizierung und Gesundheitsförderung bei schwerer vermittelbaren Personen wird begrüßt und braucht mehr Mittel als bisher. Der Zugang zu dieser Zielgruppe funktioniert am besten durch Beschäftigungsprogramme wohlfahrtsverbandlich organisierter Arbeitshilfeträger.

Nachhaltigkeit und Entbürokratisierung

Der Koalitionsvertrag enthält Ansätze zur Entlastung der Bürokratie im Bereich der Nachhaltigkeitsregulatorik. Bürokratie zu reduzieren ist grundsätzlich sinnvoll, da es diakonischen Trägern hilft, sich stärker auf ihre Kernaufgaben zu konzentrieren und Ressourcen verstärkt in die tatsächliche Umsetzung von Nachhaltigkeitsmaßnahmen zu investieren. Die Vereinfachung der Berichtspflichten darf aber nicht dazu führen, dass Unternehmen weniger Verantwortung für ihre ökologischen und sozialen Auswirkungen übernehmen. 

Die Diakonie Württemberg fordert weiterhin einen sozialverträglichen Klimaschutz. Das angekündigte Energieeffizienzprogramm muss für Einrichtungen und Dienste gemeinnütziger Träger passend ausgestaltet werden. Das Klimageld fehlt gänzlich im Koalitionsvertrag.

Grundsätzlich ist es eine enorme Einschränkung, dass alle Verabredungen im Koalitionsvertrag unter einem Finanzierungsvorbehalt stehen. Es besteht zwar Konsens über die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit einer auskömmlichen Förderung, weil aber nicht genug Geld da ist, werden Mittel womöglich dann doch nicht bereitgestellt. Die Politik sollte sich an den sozialen Notwendigkeiten orientieren.