„Diakonie digital?“
Interview mit dem Vorstand zu Prozessfragen, fachlichen Möglichkeiten und gesellschaftlich-ethischer Einordnung der Digitalisierung des Sozialen.
Im Schulterschluss mit dem Digitalisierungsprojekt der Landeskirche hat die Diakonie Württemberg sich auf den Weg in die digitale Zukunft gemacht: Der mehrstufige Fahrplan wurde am 25. April 2018 den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Geschäftsstelle vorgestellt: Gestartet wird mit der Digitalisierung der internen Prozesse , im nächsten Schritt folgen neue, digital unterstütze Angebote für Klienten und Mitglieder bis hin zur im Aufbau befindlichen zentralen Plattform für soziale Dienstleistungen „mitunsleben.de“. Eingerahmt werden die Aktivitäten durch konsequente Kommunikation sowie den ebenfalls gerade begonnen Prozess des Erarbeitens eines „Ethikleitbilds Digitalisierung“ der Diakonie Württemberg.
Herr Dr. Bachert, gleich ganz direkt gefragt: Was soll als minimales Ergebnis herauskommen? Wann hat es sich das Projekt für Sie „kaufmännisch gerechnet“?
Dr. Bachert: Mein Kriterium ist die Frage: Wann hat es sich für die Mitarbeitenden und das DWW bewährt? Das war und ist meine Motivation, die Digitalisierung des DWW anzugehen. Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht immer der Mensch. Wir wollen unsere Mitarbeitenden durch die Digitalisierung der internen Arbeitsprozesse motivieren und ihnen attraktivere Arbeitsplätze und vor allem effizientere Arbeitsabläufe anbieten. Die eingesparte Zeit durch den Abbau von Doppelarbeiten, beispielsweise durch papierlose Urlaubsanträge, die nicht mehr erst von einer Personen ausgefüllt und dann von einer anderen Person digital erfasst werden müssen, schafft Zeit für wesentlichere Aufgaben: Für mich hat sich das Projekt dann gelohnt, wenn mehr Zeit für das Beraten und Unterstützen unserer Mitgliedseinrichtungen entstanden ist und das Engagement für die Arbeit der Diakonie durch zusätzliche finanzielle Ressourcen gestärkt wurde.
Bereits nach sehr kurzer Zeit werden wir durch anwenderorientierte Automatisierung unserer Verwaltungstätigkeiten als Mehrwert erfahrbare Freiräume bekommen.
Was ist Ihre ganz persönliche Vision des vollständig digitalisierten „DWW 2025“?
Dr. Bachert: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir bereits nach sehr kurzer Zeit durch anwenderorientierte Automatisierung unserer Verwaltungstätigkeiten als Mehrwert erfahrbare Freiräume bekommen werden. Freiräume, die wir in die Beratung unserer Mitglieder und auch in das Einwickeln neuer Arbeitsformen in der Beratung investieren können. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ich kann mir sehr gut eine sogenannte „Start-up-Garage“ vorstellen, in der wir ähnlich wie bei der Entwicklung der Digital-Plattform zur Vermittlung sozialer Dienstleistungen gemeinsam digital unterstützte „Modelle bauen“, um zusätzliche Fondsmittel, zusätzliche Mittel der Aktion Mensch und damit zusätzliche Spenden und Gelder für den weiteren Ausbau unserer Arbeit zu generieren. Formelhaft zugespitzt: Weniger menschliche Energie in den Verwaltungsabläufen verbrauchen und mehr kreative Denk- und Entwicklungsprozesse zum Wohl unserer Mitglieder und Klienten freisetzen.
Wie kommen wir dahin? Was kommt nach der Digitalisierung der internen Prozesse der Geschäftsstelle?
Dr. Bachert: Im ersten Schritt werden wir jetzt sehr sorgfältig prüfen, welche Daten digitalisiert werden können. Wir schauen uns alle Prozesse sehr genau an und prüfen, ob Verbesserungen möglich und vor allem nötig sind. Ein schlechter analoger Prozess wird zu einem noch schlechteren digitalen Prozess. Erst dann werden wir im zweiten Schritt die Prozesse digitalisieren, danach unsere bisherigen Dienstleistungen analysieren, deren Digitalisierungsmöglichkeiten prüfen und auch konkret angehen. Parallel werden wir unsere Mitarbeit im Verband für die Digitalisierung in der Sozialwirtschaft fortführen, wo wir in der bereits erwähnten Start-up-Garage eine bundesweit im Wohlfahrtsbereich viel beachtete und diskutierte Online-Plattform entwickelt haben. Deren visionäres Ziel, zur „Plattform Nummer 1 in Deutschland für alle sozialen Dienstleistungen aller Hilfearten“ zu werden, wird unsere volle Unterstützung als DWW benötigen. Bis dahin dürfen wir uns über sogenannte „Quick Wins“, unsere schnellen Erfolge bei der Digitalisierung unserer internen Prozesse, dem Einüben im Umgang mit Medientechnik und, ganz besonders wichtig, unserer gemeinsamen Lernerfahrung freuen, dass Digitalisierung des DWW uns alle entlastet, aber keine Stellen kostet.
Digitale Verbesserungen und Ergänzungen können wir nur anwenden, wenn wir sie ethisch hinterfragen und datenschutzrechtlich absichern.
Frau Armbruster, wo sehen Sie die größten Potenziale, diakonische Beratungsleistungen digital besser zu machen?
Armbruster: Digitalisierung bietet heute schon vielfältige Unterstützung für unterschiedliche Zielgruppen, gerade in der Beratung. Ich meine niederschwellige Kontaktmöglichkeiten zur Kontaktpflege und Beratung, die die Erreichbarkeit und Reichweite der Beratung steigern. Ich meine Übersetzungs-Apps in der Zusammenarbeit mit Migrantinnen und Migranten. Und: Es muss nicht mehr jede und jeder persönlich in der 20 Kilometer entfernten Beratungsstelle einen Termin wahrnehmen. Großes Potenzial bietet die Face-Beratung am PC oder Laptop, wenn der Klient immobil ist oder aus anderen Gründen die Beratungsstelle nicht aufsuchen kann. Ganz praktisch kann dies so aussehen: Anfragen in der Gehörlosenberatung werden schriftlich per SMS, E-Mail oder per Videochat in Gebärdensprache bearbeitet. Wichtige Dokumente werden abfotografiert und das Foto für eine kurze Klärung zur Beratungsstelle geschickt. Manchmal ist eine kurze SMS als Antwort ausreichend und es braucht keinen Beratungstermin, der möglicherweise erst drei Wochen später zustande kommt.
Sehen Sie auch Herausforderungen? Sowohl für die Berater als auch für die Klienten?
Armbruster: Lassen Sie mich vorab etwas grundsätzlicher antworten: Digitale Verbesserungen und Ergänzungen können wir nur anwenden, wenn wir sie ethisch hinterfragen und datenschutzrechtlich absichern. Gleichzeitig geht es auch um die angepasste technische und organisatorische Unterstützung, denn bisherige analoge Prozesse bei Dienstgebern entsprechen oft nicht dem, was im Digitalen nötig wäre. Hier gilt es wachsam zu sein und die Fragen rechtzeitig vor der Einführung eines digitalen Beratungsangebots abzuklären. Das bedeutet für uns, sie absolut zielgruppenspezifisch zu konzipieren, bevor wir damit an den Start gehen: Was genau suchen und benötigen die Mittfünfziger, die sich zum Umgang mit der Demenz des Vaters und zu Unterstützungsleistungen digital beraten lassen wollen? Wie erreichen wir online gezielt ein junges Mädchen, das ungewollt schwanger geworden ist? Wie findet eine Familie mit einem behinderten Kind eine kompetente Beratung im Netz zu den verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten?
Jetzt zu Ihrer Frage: Zentrale Herausforderung für die Berater ist die Abgrenzung von Arbeitszeit und Privatzeit. Für Klienten sehe ich die damit zusammenhängende Herausforderung der Vermittlung, dass ihr zwar 24/7 online erreichbarer Berater tatsächlich aber nur während dessen Arbeitszeit reagieren kann. Hier gilt es gut zu überlegen, wie die Erreichbarkeiten zielgruppenorientiert und gleichzeitig mitarbeitendenfreundlich angeboten werden können.
Was brauchen demnach sowohl die Berater als auch die Klienten, um digital nicht abgehängt zu werden?
Armbruster: Alle Mitarbeitenden benötigen Medienkompetenz, im Sinne von Datenschutz, Technikkenntnis, Möglichkeiten und Grenzen. Diese muss über Schulungen (analog oder digital) mit einem einheitlichen Standard vermittelt werden. Und: Das alles geht nur mit aktueller Technik, die als Standard für diese Beratungsangebote beschafft und gepflegt wird.
Auf der anderen Seite müssen Klientinnen und Klienten überhaupt über das Knowhow und die technischen Grundlagen verfügen, um digitale Beratungsmöglichkeiten nutzen zu können. Sonst geht das Angebot am Bedarf vorbei. Das Gleiche gilt für die Auffindbarkeit der Beratungsangebote. Gleichzeitig gibt es bei der Digitalisierung auch das Stichwort „analog abgehängt/ Stichwort Vereinsamung“ in den Blick zu nehmen: Die einzigartigen Qualitäten analoger Beziehungen dürfen durch digitale Angebote nur ergänzt und nicht ersetzt werden. Diese Herausforderung müssen wir ebenfalls berücksichtigen.
Eine Aufgabe für die Diakonie besteht darin, die Entwicklung technischer Innovationen voranzutreiben. Außerdem müssen wir Sorge tragen für diejenigen, die mit den Entwicklungen nicht mithalten können, die benachteiligt sind und übergangen werden.
Herr Kaufmann, zum Schluss möchte ich mit Ihnen die gesellschaftliche und die diakonisch-ethische Perspektive ansprechen: „Digitalisierung ist die Soziale Frage des 21. Jahrhunderts.“ Können Sie der These zustimmen?
Kaufmann: Mit dem Begriff der Sozialen Frage werden in Deutschland üblicherweise die Folgeprobleme der industriellen Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts verbunden. Der Aufschwung der Industrie bedeutete gleichzeitig den Niedergang des Heim- und Agrargewerbes und begründete eine Krise des Handwerks. Bauern, Handwerker und Arbeiter fürchteten um ihre Existenz und wanderten massenhaft vom Land in die städtischen Industriezentren ab.
Dass heute gerade deutsche Metropolen für junge Familien an Attraktivität gewinnen ist meines Erachtens nicht durch die Digitalisierung begründet. Im Gegenteil: Neue digitale Kommunikationsformen ermöglichen das Arbeiten in vielen Arbeitsfeldern von überall her. Nein, in Bezug auf diesen Aspekt stellt Digitalisierung nicht die Soziale Frage des 21. Jahrhunderts dar. Allerdings verändert sie maßgeblich die Struktur der Arbeitswelt. Die fortschreitende Digitalisierung begründet viele neue Arbeitsfelder, vorrangig in der EDV- und IT-Branche. Gleichzeitig ist damit zu rechnen, dass Arbeitsplätze im Zuge der Digitalisierung abgebaut werden. Hier werden Menschen durch Technik und Softwarelösungen ersetzt. Problematisch wird hier sein, dass diese Entwicklungen vorrangig aus den unterschiedlichen Gründen nicht oder wenig qualifizierte Personen treffen werden, denen die benötigte Ausbildung für eine neue Aufgabe im technischen Bereich fehlt. Also ja, die Digitalisierung muss in diesem Kontext durchaus als Soziale Frage des 21. Jahrhunderts interpretiert werden.
Wo sehen Sie aus diakonischer Perspektive Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung?
Kaufmann: Digitalisierung bedeutet für viele Menschen eine neue Chance, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Ich denke nicht nur an autistische oder hörgeschädigte, an alte oder erkrankte Menschen oder an Menschen anderer Sprache, die eine Übersetzung benötigen. Die Aufgabe für die Diakonie besteht darin, die Entwicklung solcher technischen Innovationen voranzutreiben. Außerdem müssen wir Sorge tragen für diejenigen, die mit den Entwicklungen nicht mithalten können, die benachteiligt sind und übergangen werden. Zudem muss der Prozess der Digitalisierung durch einen sorgfältigen ethisch-theologischen Diskurs begleitet werden.
Ähnlich wie Gustav Werner als Begründer der BruderhausDiakonie zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Vorteile der Industrialisierung für die Fürsorge armer und kranker Menschen nutzte, heißt es auch für die Diakonie heute, die mit der Digitalisierung verbundenen Änderungen nicht ungeprüft abzulehnen, sondern die Chancen auszuloten und diese zu nutzen.
Mit den Vorständen sprach Hartmut Kopf.
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