Diakonie in Württemberg mit Koalitionsvertrag grundsätzlich zufrieden
Bestätigung diakonischer Arbeit bei Freiwilligendiensten und assistierter Ausbildung. Kritik: fehlende Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit.
Stuttgart, 29. November 2013. Die württembergische Diakonie ist grundsätzlich zufrieden mit dem jetzt vorgelegten Koalitionsvertrag der Bundesregierung. „Wir begrüßen vor allem die Aussagen zu den Freiwilligendiensten, der Pflege und der assistierten Ausbildung“, sagt Oberkirchenrat Dieter Kaufmann, Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werks Württemberg.
Nachbesserungen brauche es bei den Aussagen zur Behindertenhilfe. Nicht gut heißen kann die württembergische Diakonie die Aussagen zur Arbeitslosigkeit. Kaufmann kritisiert: „Nur scheinbar wird im Koalitionsvertrag ein Schwerpunkt auf die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit gelegt.“ Die Aufnahmefähigkeit beruhe auf der Zunahme der Teilzeitarbeit und der prekären Arbeitsverhältnisse. „Ich denke nicht, dass daraus bessere Chancen für Langzeitarbeitslose abgeleitet werden können“, sagt Kaufmann, „Eher wird es für viele Menschen aussichtslos bleiben, wieder in stabile und existenzsichernde Arbeitsverhältnisse zurückzufinden.“ Weder eine ausreichende Rücknahme der Mittelkürzungen aus den letzten drei Jahren noch weitere konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit seien absehbar. Die SPD-Vorschläge für öffentlich geförderte Beschäftigung fehlten. In dieser Situation ein vom Europäischen Sozialfonds begründetes Programm des Bundes anzukündigen, mit dem Arbeitgeber für die Gruppe der Langzeitarbeitslosen gewonnen werden sollen, ist nach Einschätzung des Chefs der württembergischen Diakonie fast zynisch. „Das Ausmaß der Spaltung des Arbeitsmarktes und der Gesellschaft wird in der Koalitionsvereinbarung klein geredet, als könne es durch begrenzte Programme und Projekte wirksam bekämpft werden.“ Eine aktuelle Studie hat vor wenigen Tagen belegt, dass es bundesweit mindestens 435.000 öffentlich geförderte Arbeitsplätze braucht. So hoch ist nach Meinung der Diakonie die Mindestzahl derjenigen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine Chance mehr haben. Für diese müssen in den Sozialgesetzbüchern mehr Möglichkeiten zur Beschäftigung schaffenden Maßnahmen formuliert werden unter Einsatz des Passiv-Aktiv-Transfers, wie die Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften, die kommunalen Spitzenverbände, etliche Bundesländer und die gesamte Fachöffentlichkeit es seit Jahren fordern.
Als bundesweit größter Anbieter von Freiwilligendiensten begrüßt die württembergische Diakonie, dass diese im Koalitionsvertrag ein eigenes Kapitel bekommen haben. Dass die Weiterentwicklung und der Ausbau der Qualität in den Freiwilligendiensten „in zivilgesellschaftlicher Verantwortung“ geschehen soll, bedeute eine Stärkung des von der Diakonie eingeforderten Trägerprinzips und hoffentlich Bürokratieabbau. Mit der diakonischen Forderung nach einem Bündnis für Engagement nachhaltiger Gewinnung von Menschen für die Freiwilligendienste korrespondiere der „Ausbau der Anerkennungskultur“. Ein Aspekt freut Oberkirchenrat Dieter Kaufmann besonders: „Die erwähnte Unterstützung von Freiwilligendiensten, die zum Erwerb zusätzlicher formaler Qualifikationen beitragen, ist direkt auf das von uns entwickelte und sehr erfolgreiche FSJ plus zugeschnitten, mit dem der Realschulabschluss erworben werden kann. Hieraus könnte eine greifbare Perspektive für unser Projekt werden.“ Und nicht zuletzt: „Die Umsatzsteuerbefreiung ist längst fällig – es ist gut, dass das jetzt konkret angegangen werden soll.“ Ein Wermutstropfen: Im Vorentwurf zur Koalitionsvereinbarung wurden 100 Millionen Euro mehr für die Freiwilligendienste angekündigt – das fehle nun.
Weitere Bestätigung für die diakonische Arbeit ist, dass das von der Diakonie Württemberg entwickelte und in Baden-Württemberg erfolgreich praktizierte Konzept der „Assistierten Ausbildung“ nun bundesweit ausgebaut werden soll. Damit können Jugendliche mit schlechteren Chancen eine voll qualifizierende Berufsausbildung durchlaufen. Kaufmann: „Assistierte Ausbildung muss dabei Bestandteil eines Gesamtkonzepts für den Übergang von der Schule in den Beruf sein, in dem für benachteiligte und behinderte Jugendliche auch weiterhin in ausreichendem Umfang berufliche Vorbereitungs-Maßnahmen und überbetriebliche Ausbildungen bei Bildungs- und Sozialträgern bereit gestellt werden.“
Beim Kapitel zur Pflege begrüßt die württembergische Diakonie, dass mehr Geld ins System der Pflegeversicherung kommen soll und die schwierigen Punkte wie Einstufungsrichtlinien und Qualitätsprüfkriterien für die Dienste angegangen werden sollen. „Wir freuen uns, dass unsere Forderung, die Leistungsansprüche für demenzkranke Menschen weiter auszubauen, im Koalitionsvertrag ausdrücklich aufgenommen ist“, so Dieter Kaufmann. „Wir werden den Umsetzungsprozess aufmerksam und kritisch begleiten. So hoffen wir, dass das die Dynamisierung der Leistungsansprüche auch für die Menschen in Pflegeheimen endlich realisiert wird, damit ambulante und stationäre Pflegeangebote gleichberechtigt bedarfsgerecht weiterentwickelt werden können“, so Kaufmann weiter.
Auch die aufgeführten Maßnahmen für Menschen mit Behinderung weisen für die württembergische Diakonie in die richtige Richtung. Sie lösen langjährige Forderungen ein, zum Beispiel die stärkere Beteiligung der Menschen mit Behinderung als Experten in eigener Sache, die Ausweitung der Barrierefreiheit oder die Weiterentwicklung des Nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention. Gleichwohl müssen sie nach Ansicht von Oberkirchenrat Kaufmann „in den nächsten Monaten mit den Organisationen der Menschen mit Behinderung und der freien Wohlfahrtspflege in konkrete, überprüfbare Schritte übersetzt werden“. Zu begrüßen seien weiterhin die angekündigten Reformen in der Eingliederungshilfe und die Einführung eines Bundesteilhabegeldes. Dieses Teilhabegeld müsse aber um individuell bedarfsdeckende Eingliederungsleistungen ergänzt werden, die auf der Basis eines bundesweit einheitlichen Verfahrens zu ermitteln sind. Dies gelte in besonderem Maße für die in Baden-Württemberg kommunalisierte Eingliederungshilfe. Auch müsse die „Zweiklassengesellschaft“ unter den beschäftigten Menschen mit Behinderung aufgegeben werden, indem nicht mehr unterschieden wird, ob sie im Einzelfall „ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ erbringen können oder nicht. Damit würde allen Menschen mit Behinderung eine Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen ermöglicht und der entsprechende sozialversicherungsrechtliche Status eingeräumt.
Als unzureichend beurteilt Kaufmann die vorgesehenen Maßnahmen zur Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. „Es ist dringend erforderlich, die gesetzliche Beschäftigungsquote für schwerbehinderte Menschen von derzeit fünf Prozent auf ihren tatsächlichen Anteil in der Bevölkerung, nämlich rund neun Prozent, zu erhöhen und dies mit wirksamen Erleichterungen und Hilfen für Arbeitgeber zu verknüpfen.
„Es gibt also viele zukunftweisende Ansätze. Wir hoffen, dass diese den Weg vom Papier in die Realität finden. Wir werden den Umsetzungsprozess intensiv begleiten und die neue Regierung an ihre Versprechungen erinnern“, so Diakoniechef Kaufmann.