50 Jahre Beratung für Hörgeschädigte in der Diakonie Württemberg
Intensivere Maßnahmen zur gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft gefordert.
50 Jahre Inklusionsarbeit für Hörgeschädigte zeigen: Der gesellschaftliche Wandel ist eingeleitet. Für uneingeschränkte und gleichberechtigte Teilhabe hörgeschädigter Menschen an der Gesellschaft sind weitere Maßnahmen im Alltag, Förderung bereits vom Kindesalter an und weiterreichende Unterstützungsangebote erforderlich. Träger fordern 80 Prozent Refinanzierung für flächendeckendes Beratungsangebot.
Statement von Eva-Maria Armbruster
Stellvertreterin des Vorstandsvorsitzenden des Diakonischen Werks Württemberg
Sehr geehrte Damen und Herren von der Presse, sehr geehrte Gäste,
vor sieben Jahren, im Mai 2008, trat die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, in Kraft. Deutschland hat sie als einer der ersten Staaten ratifiziert. 2008 ist sie bei uns in Kraft getreten. Seit sechs Jahren hat jeder Mensch hier ein Recht darauf, ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu sein, ein Recht auf Inklusion.
Seit 50 Jahren bereits setzt sich die diakonische Beratungsstelle für Hörgeschädigte für Inklusion ein. Die Beratenden leisten seit fünf Jahrzehnten einen unermüdlichen und wichtigen Beitrag dafür, dass hörgeschädigte Menschen sich angenommen und unterstützt fühlen. Für sie ist es mehr als ein Job – die Arbeit der Beratenden ist immer auch ein Stück weit eigene Überzeugung und Wertekultur. Herzlichen Dank an die Mitarbeitenden der diakonischen Beratungsstelle für Hörgeschädigte. Herzlichen Dank dafür, dass Sie mit Ihrem Wissen und Ihren Fähigkeiten seit 50 Jahren Brückenbauer und Unterstützer sind.
Schon das alte Testament erzählt von einem gottgesandten Brückenbauer. Gemeint ist Moses Bruder Aaron. Ich lese aus 2. Mose 4, 10 ff.:
Doch Mose erwiderte: „Ach Herr, ich habe doch noch nie gut reden können, und auch seit du mit mir, deinem Diener, sprichst, ist das nicht besser geworden. Ich bin im Reden viel zu schwerfällig und unbeholfen.“ Der Herr antwortete: „Wer hat den Menschen die Sprache gegeben? Wer macht die Menschen stumm oder taub? Wer macht sie sehend oder blind? Ich bin es, der Herr! Also, geh jetzt! Ich werde dir helfen und dir sagen, was du reden sollst.“ Doch Mose erwiderte: „Nimm es mir nicht übel, Herr, aber schicke einen andern!“ Da wurde der Herr zornig auf Mose und sagte: „Du hast doch noch einen Bruder, den Leviten Aaron! Ich weiß, dass er gut reden kann. Er ist auf dem Weg zu dir und wird sich freuen, wenn er dich wiedersieht. Du sagst ihm alles, was er reden soll. Ich helfe dir dabei, und ihm helfe ich auch. Ich sage euch, was ihr tun und reden sollt. Wenn Aaron für dich zum Volk spricht, wird das so sein, wie wenn ein Prophet die Botschaften seines Gottes weitergibt. Und den Stock hier nimm in die Hand! Mit ihm wirst du die Wunder tun, die dich ausweisen.“
Moses sprach durch Aarons Mund, und die Kommunikation, der Brückenschlag zwischen der Welt der Behinderten und der der Nicht-Behinderten gelang. Ein solches Gelingen wünsche ich den Hilfesuchenden und all denjenigen, die sich haupt- und ehrenamtlich für Inklusion einsetzen.
Ein halbes Jahrhundert Inklusionsarbeit für Hörgeschädigte. Angefangen hat alles, wie so oft im diakonischen Wirken, mit dem Bewusstwerden eines dringenden Bedarfs, einer Idee und ganz viel Engagement. Es war der Gehörlosenseelsorger im Nebenamt, Pfarrer Leidhold, der Anfang der 60er Jahre sah, dass es unter den Hörgeschädigten soziale Notfälle gab, die dringend Beratung, Begleitung oder einfach nur einen Dolmetscher brauchten. Pfarrer Leidholds Überzeugungsarbeit ist es zu verdanken, dass die Diakonie Württemberg am 1. April 1965 im Auftrag der Evangelischen Landeskirche mit Fräulein Ingeborg Kübler den „Sozialdienst für Gehörlose“ eröffnet hat. Ingeborg Kübler ist als Sozialarbeiterin für Gehörlose tätig, organisiert Jugendfreizeiten für junge Gehörlose, bietet kommunikative und handwerkliche Gestaltungsaktivitäten und engagiert sich im Gehörlosenverein. Der Sozialdienst für Gehörlose etabliert sich.
1993 ist das nächste bedeutende Jahr für den Sozialdienst und seine Klienten. Mit Zuschüssen der Hauptfürsorgestelle des Landeswohlfahrtsverbandes, des heutigen Integrationsamtes beim Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS), kann die Diakonie eine weitere Stelle finanzieren. Sie weitet ihr Unterstützungsangebot aus und bietet fortan zur psychosozialen Beratung die Beratung und Begleitung im Arbeitsleben (Leistungen nach §§ 109 ff. SGB IX). Die Beratungsstelle deckt etwa zwei Drittel des Gebietes der Evangelischen Landeskirche ab. In der täglichen Arbeit wird eine Aufgabe für die Sozialarbeiter besonders wichtig: die Begleitung hörgeschädigter Menschen bei Kündigungsschutzverhandlungen.
2005 führt Baden-Württemberg die Verwaltungsstrukturreform durch. In Folge dessen muss die Diakonie die Berufsberatung und -begleitung für Hörgeschädigte an den Integrationsfachdienst abgeben. Diese Zäsur nimmt die Diakonie zum Anlass, die psychosoziale Beratung neu aufzustellen. Sie wirbt bei anderen Trägern für einen Trägerbund. Ziel ist es, das Beratungsangebot mit einheitlichen Standards zu professionalisieren, weiterzuentwickeln, flächendeckend auszubauen und sich für eine kommunale Mitfinanzierung einzusetzen.
2009 ist es soweit. Nach über 40 Jahren Alleinfinanzierung durch die Landeskirche unterzeichnen fünf Träger mit dem KVJS einen auf drei Jahre angelegten Vertrag. Der KVJS gibt jährlich eine Viertelmillion Euro. Dafür übernehmen erst fünf, später sieben Träger die flächendeckende Versorgung in Baden-Württemberg mit Beratungsstellen für Hörgeschädigte. Diese erreichen sie bereits ein Jahr später, 2010. 2012 schließen die Träger und der KVJS einen unbefristeten Vertrag mit in Höhe der Tarifsteigerungen dynamisch angepasster kommunaler Mitfinanzierung.
Die Refinanzierung der Träger beläuft sich heute auf 29 Prozent. Das ist zu wenig! Der Beratungsbedarf ist unvermindert hoch. Hörbehinderung, gekoppelt mit eingeschränkter sprachlicher Ausdrucksfähigkeit, führt dazu, dass Hörgeschädigte allgemeine Beratungsdienste wie Erziehungs- oder Schuldnerberatung nicht oder nur mit Unterstützung nutzen können. Der Anteil der Hörgeschädigten mit Migrationshintergrund liegt in Baden-Württemberg bei ca. 21 Prozent. Die Beratung dieser Gruppe stellt besondere Anforderungen an die Fachberater. Beispielsweise unterscheidet sich die Gebärdensprache wie die Lautsprache nahezu von Land zu Land.
Die Träger brauchen dringend Planungs- und Versorgungssicherheit, damit sie die Beratungsstellen für Hörgeschädigte langfristig in angemessener Qualität erhalten können. Die Träger fordern eine 80-prozentige Refinanzierung. Das entspricht dem Niveau anderer Beratungsstellen auf Kreisebene. Die Träger sind bereit, einen angemessenen Eigenbeitrag von 20 Prozent beizusteuern. Sie wollen das flächendeckende Angebot beibehalten und dort ausbauen, wo die Versorgung weit unterdurchschnittlich ist.
In den Beratungsstellen für hörgeschädigten Menschen in Baden-Württemberg arbeiten ausnahmslos sozialpädagogische bzw. pädagogische Fachkräfte, die sich in der Kommunikation mit hörgeschädigten Menschen weitergebildet haben und die Gebärdensprache beherrschen. Die Sozialberatungsstellen unterstützen hörgeschädigte Menschen dabei, sich im Alltag zurechtzufinden und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie helfen und begleiten im Umgang mit Behörden oder im Verwaltungsverfahren und beugen somit einem größeren Hilfebedarf vor. Dies kann mitunter zu einer erheblichen Kostenersparnis bei den Leistungsträgern führen. Beispielsweise trägt die Beratung dazu bei, dass ein Teil unserer Klienten nicht Leistungsempfänger nach SGB XII wird. Das würde die Kassen der jeweiligen Stadt- und Landkreise belasten. Gezielte Beratung und Unterstützung befähigt im Idealfall hörgeschädigte Menschen zu einem Leben unabhängig von gesetzlichen Betreuern oder stationären Einrichtungen.
Die Sozialberatung für hörgeschädigte Menschen dient der Stärkung der Selbsthilfe zur aktiven Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft. Ziel ist, dass die hörgeschädigten Menschen ein weitgehend selbständiges Leben führen und persönliche Notlagen überwinden. Damit entspricht der Auftrag der Sozialberatung den Zielsetzungen der Eingliederungshilfe nach § 53 SGBXII.
Gleichberechtigte Teilhabe geht noch weiter. Sie umfasst ganz normale unprätentiöse Selbstverständlichkeiten, über die wir gar nicht mehr nachdenken, die wir einfach tun: ins Kino gehen, einen Töpferkurs bei der Volkshochschule machen, über den Tatort vom letzten Sonntag diskutieren, im Notfall barrierefrei Hilfe rufen. Damit das auch für Hörgeschädigte Normalität sein kann, ist es erforderlich, die Menschen bereits vom Kindesalter an intensiv zu fördern und in Zweisprachigkeit leben zu lassen. Das heißt, mit der Gebärdensprache und mit der Lautsprache. Es ist notwendig, das tägliche Leben barrierefrei zu gestalten, beispielsweise mit einem barrierefreien Notruf, mit bezahlbaren oder gar kostenfreien Dolmetscherdiensten. Oder mit TV-Beiträgen mit Untertiteln und einer Gebärdenversion, damit die Hörgeschädigten am Informations- und Unterhaltungsangebot im Fernsehen teilnehmen können. Der Wille der Sender ist da, auch seitens der Privatsender, es ist allerdings noch viel zu tun. Den Tatort immerhin gibt es mit Untertiteln, in Gebärdensprache nicht.
50 Jahre Beratungsstelle für Hörgeschädigte sind für die Diakonie ein Anlass zum Feiern und ein Anlass, den Finger in diese soziale Wunde zu legen, auf dass sie sich durch die gemeinsamen Anstrengungen von Politik und Gesellschaft weiter schließe.
Und ich schließe mit dem Segenswunsch, mit dem Gott Aaron beauftragt hat. Er greift das Angesicht als Zeichen der uns zugewandten Gegenwart Gottes auf .Der Blick ins Gesicht respektive die Mimik sind für die Hörgeschädigten wesentliche Elemente, Informationen zu rezipieren und sich mitzuteilen. „Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“
Statement von Roswitha Köble , Beraterin für Hörgeschädigte im Diakonischen Werk Württemberg.