Bundesteilhabegesetz: Baden-Württemberg darf nicht zum Schlusslicht werden
Menschen mit Behinderung demonstrieren vor dem Landtag
Stuttgart, 11. Dezember 2019. Hunderte Menschen aus ganz Baden-Württemberg haben heute vor dem Landtag für eine zügige Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) im Land demonstriert. Sie forderten verlässliche, landesweit geltende Rahmenbedingungen, damit Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben führen können. Deshalb müssten die Verhandlungen zum Landesrahmenvertrag zügig wieder aufgenommen werden. Vom Sozialministerium forderten sie, die Mehrkosten für die Umstellung der Leistungen für Menschen mit Behinderung nicht auf die Dienste und Einrichtungen abzuwälzen, in denen sie leben oder von denen sie begleitet werden. „Wenn die Umstellungskosten nicht durch das Land gedeckt sind, geht das zu Lasten der Betroffenen und widerspricht dem eigentlichen Sinn des BTHG“, erklärte Ursel Wolfgramm, Vorsitzende der Liga der freien Wohlfahrtspflege. „Eine gute und verlässliche Unterstützung braucht eine gute und verlässliche Finanzierung. Inklusion gibt’s nicht zum Nulltarif“, so Wolfgramm.
Menschen mit Behinderung, ihre Angehörigen und rechtliche Betreuungspersonen, Selbsthilfegruppen und Beschäftigte der Behindertenhilfe demonstrierten daher mit roten Laternen. Zeichen dafür, dass Baden-Württemberg nicht zum Schlusslicht bei der Umsetzung des BTHG werden darf. Bezogen auf die Höhe der Zuschüsse an die Träger der Behindertenhilfe hat das Land im bundesweiten Vergleich bereits die rote Laterne. „Werden die Mehrkosten nicht durch das Land refinanziert, fehlt in den Einrichtungen das notwendige Personal, das uns als Angehörige und Betreuer berät. Denn wir sind mit unzähligen Änderungen bei der Antragsstellung konfrontiert“, erklärte Peter A. Scherer als Vertreter der Angehörigen und Betreuer von Menschen mit geistiger Behinderung Baden-Württemberg.
„Es herrscht im Moment auf allen Seiten eine große Verunsicherung, wie die neuen Rechte umgesetzt werden. Dies betrifft sowohl Menschen mit Behinderung, die selbstbestimmt in ihren eigenen vier Wänden wohnen, wie jene, die in den Einrichtungen der Behindertenhilfe leben“, erklärte Britta Schade, die selbst mit einer Behinderung durch Contergan lebt und als Psychologin am „Zentrum selbstbestimmtes Leben – Aktive Behinderte in Stuttgart“ arbeitet. Bezogen auf die Städte und Landkreise herrsche große Ungleichheit, wie sie mit den Anträgen zur Teilhabe umgehen. Manche Mitarbeitende hätten noch nie etwas vom persönlichen Budget gehört, berichtete Schade.
Am 1. Januar 2020 tritt die dritte Stufe des BTHG in Kraft. Das Gesetz stellt einen Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe dar. Es soll gewährleisten, dass Menschen mit Behinderung die individuelle Unterstützung bekommen, die sie brauchen, um selbstbestimmt so leben zu können, wie sie wollen. Diesen Paradigmenwechsel begrüßt die Liga der freien Wohlfahrtspflege ausdrücklich. Allerdings bringt der Wandel für die Dienste und Einrichtungen einen erheblichen Aufwand mit sich, was Organisation, Personal und auch Finanzen anbelangt. So sollen Menschen mit Behinderung künftig Teilhabeleistungen anstelle von Sozialhilfe bekommen. Anstelle von Heimverträgen erhalten Personen, die bislang in stationären Einrichtungen betreut werden, Mietverträge. Insbesondere die Personalmehrkosten – etwa durch Schulungen oder dem Abschluss neuer Verträge mit Menschen mit Behinderung – oder die EDV-Umstellung sind eine Belastung, die die Einrichtungen zu schultern haben.
Wie die Angebote für Menschen mit Behinderung künftig ausgestaltet werden, will die Liga der freien Wohlfahrtspflege in einem Landesrahmenvertrag fixieren. Mit einem unterschriftsreifen Rahmenvertrag wird aber aufgrund des Streits um die Finanzierung der Kosten des BTHG zwischen Landesregierung und Kommunen erst bis Ende März 2020 gerechnet. „Der 1. Januar 2020 hätte ein Meilenstein auf dem Weg zur gleichberechtigten Teilhabe für Menschen mit Behinderung werden können“, so Wolfgramm. „Stattdessen droht nun mit diesem Tag die bedrückende Unsicherheit für die Menschen mit Behinderung, ihre Angehörigen und auch die Einrichtungen, in denen sie leben.“